Gibt es noch Hoffnung für unseren Planeten? Angesichts all der Demonstrationen für eine bessere Zukunft scheinen viele tatsächlich noch daran zu glauben. Lauscht man Cattle Decapitation, zerbröselt der letzte Strohhalm binnen Sekunden. Warum eigentlich noch Silvester 2019 und den Beginn eines neuen Jahrzehnts feiern, wenn die Menschheit sich das eigene Grab längst geschaufelt hat? "Death Atlas" ist weniger Aufruf zur Besserung, eher Anklageschrift für den Tag des Jüngsten Gerichts.
"We thought we had enough time to redesign through human minds", rekapituliert Sänger/Keifer/Grunzer Travis Ryan im Titeltrack. "We deserve everything that's coming / We'll take this world to our graves" Wer das dystopische Cover-Artwork des Albums, auf dem Cattle Decapitation eine ausgebrannte Erde zeigen, mit Grafiken zu den jüngsten Amazonas-Waldbränden vergleicht, wagt nicht mehr, ihm zu widersprechen. Lieber noch ein paar multilinguale Abschiedsworte an außerirdische Zivilisationen, die unsere Überreste vielleicht irgendwann mal ausbuddeln aufnehmen. Mit dieser "Anthropogenic End Transmission" beginnt "Death Atlas". "Paz e felicidade a todos [...] Herzliche Grüße an alle..."
Dann löschen Cattle Decapitation jeden Hauch von Menschlichkeit aus. Ihr Soundtrack zum Untergang steht ganz im Zeichen der im Lauf der letzten Jahre perfektionierten Balance aus wüstem Geknüppel und geradezu feingeistigem Songwriting. Es ist große Kunst, wie die Musiker detailverliebte Kabinettstückchen wie die elegant gespielten Slides in "With All Disrespect", beinahe melodische Schlagzeugpattern ("Bring Back The Plague") und komplexe (Dis-)Harmonien in aberwitzige Geschwindigkeitsparcours flechten.
Mit scheinbar unfehlbarer Präzision wechselt das Quintett Tempi und Rhythmen, ohne sich jemals in labyrinthischen Strukturen zu verheddern, wie das Kollegen eher technisch motivierter Extrem-Kapellen öfter passiert. Ryan und seine Kollegen Josh Elmore und Belisario Dimuzio (Gitarre), Olivier Pinard (Bass) und Dave McGraw (Drums) haben stets ein klares Songziel im Sinn. Das setzen sie kompromisslos durch – sei es in Highspeed-Varianten oder mit aufs Wesentliche reduzierten Death-Doom-Hämmern ("Finish Them", "Vulturous").
Das Perfide an den Vernichtungsorgien Cattle Decapitations und gleichzeitig ihr eindrucksvollstes Element: sie setzen sich schmerzhaft in den Gehörgängen fest – nicht als Ohrwürmer, als Widerhaken. Gäbe es Hits im Extreme Metal, "One Day Closer To The End Of The World" wäre der Kommerzschlager schlechthin. Möglich machen das einerseits kompositorische Stringenz, andererseits die verkrüppelt harmonischen Hooks von Ryan. Mit seinem typischen, inhumanen und zugleich seltsam melodischen Kreischen ist er im Extreme Metal das, was Beyoncé im Pop ist: unantastbar, unwiderstehlich, unvergesslich. Erst recht, da er in anderen Disziplinen ebenfalls überzeugt. Mit tiefen Growls erreicht der 45-Jährige manchmal die Stimmgewalt David Vincents. Bei "Absolute Destitute" zeigt er schnörkellose Black Metal-Raserei. "Bring Back The Plague" ziert ein (mit kleinen Unterbrechungen) fast 40-sekündiges Abschlussröcheln.
Selbst im neunminütigen Schlussmanifest "Death Atlas" findet man keine Unze Ballast oder unnötiges Hakenschlagen im Songwriting Cattle Decapitations. Jeder Schlag, jeder Pickslide, jeder Bass groove, jedes Kreischen, jede Textzeile hat Konsequenz – mindestens als Bluterguss im Ohr des Hörers. Während "Death Atlas" beinahe sakral ausklingt, kocht die Verzweiflung hoch. "Alas, the deed is done / Mankind has come and gone / Carbon-based life forms reset to day one" Shit. We're fucked. Aber wenigstens mit guter Musik.
© Laut