Intronaut, "Los Angeles' worst kept secret", legen den ersten Progressive Metal-Paukenschlag des noch jungen Jahres vor. Dass die Kalifornier mit ihrem sechsten Album "Fluid Existential Inversions" derart wirkmächtig und vor Kreativität geradezu überschäumend in die Vollen greifen, erscheint alles andere als selbstverständlich. Stand die Band um Frontmann Sacha Dunable doch nach der extrem fordernden Genese des bereits vor fünf Jahren veröffentlichten, von Devin Townsend abgemischten "The Direction Of Last Things" völlig ausgebrannt am Rande des Kollaps.
Man hört dem ausgefeilten, höchst kontrastreich zwischen gnadenlos brutal und schmerzlich schön pendelnden "Fluid Existential Inversions" an jeder Ecke deutlich an, dass Intronaut den Kompositionsprozess nach ihrer kreativen Pause ganz in ihrem Sinne ohne jegliches Zeitlimit vollendeten. "Wir haben uns dazu angetrieben, musikalisch zu wachsen und uns zu verbessern. Für mich ist das die Essenz progressiver Musik", kommentiert Dunable den dem Album zugrunde liegenden Modus Operandi.
Dank dem kontrollierten Chaos ihrer unorthodoxen Fusion aus Progressive Metal, Post Metal, Post Rock, fiesen Sludge-Riffs sowie getragenen, atmosphärischen Jazz-Vibes öffnen sie auch heuer mit Bravour das virtuelle Tor zur vierten Dimension. Damit weisen sie besser denn je den Weg gen ferner, herrlich entrückter Welten à la M. C. Escher, in denen sie die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren fernab standardisierter Songstrukturen zelebrieren. Ebenso tief fordernd wie die Songs schlägt auch das philosophische Konzept hinter dem sperrigen Albumtitel zu Buche, das sich vollständig um die "verwirrende und absurde" menschliche Existenz und deren Evolution innerhalb des gegenwärtigen Daseins in selbst herbeigeführten, soziopolitischen Instabilitäten dreht.
Die anschwellende Selbstoszillation gleich zu Beginn des Prologs "Procurement Of The Victuals" wirkt folglich wie das bedrohliche Anfluten eines Trips, der den Hörer sogartig auf eine introspektive Reise in die Tiefen des Ichs katapultiert. "The things you've seen all melt in your mind / drink of the liquid and discard the rind", heißt es darauf folgend im mykophilen "Cubensis", einer lautmalerisch vertonten Anspielung auf die magischen Zauberpilze der Gattung Psilocybe Cubensis, die auch auf dem mystischen Albumcover verheißungsvoll wachsen.
Von der ersten Sekunde an entfalten Intronaut hier ein massiv groovendes, vertracktes Chaos aus zum Teil sehr komplexem Riffing à la Mastodon oder Tool, hypnotischen Bassläufen, sphärischem Gesang und dem absolut herausragenden, stark polyrhythmisch getriebenen Drumming von Neuzugang Alex Rüdinger (Whitechapel, The Faceless), der den 2018 gefeuerten Danny Walker ersetzt. So unmittelbar und urplötzlich wie "Cubensis" im Raum steht, so unerwartet kommt die weite, raumöffnende Wendung in Richtung Post Rock im zweiten Teil des Tracks mit ausgedehnten, reverb- und delaygetränkten Klangflächen.
Um ihrer Vision von progressiver, technisch versierter Musik so nah wie möglich zu kommen, setzen Intronaut auf "Fluid Existential Inversions" erstmals in ihrer Bandgeschichte zusätzlich auch auf Keyboards. Sowohl die wahnsinnige, musikalisch äußerst eklektische Auseinandersetzung mit der technikphilosophischen Frage, wie wir als Menschen unsere unabwendbare Zukunft zwischen Fortschritt und gegenseitiger Vernichtung gestalten wollen, als auch die von ultrafetten Riffs, empyreischem Klargesang und konterkarierenden, aggressiven Growls sowie einer Extraportion Atmosphäre und schrägen Timings durchzogene Vertonung eines Alptraums "Tripolar" profitieren enorm von dieser zusätzlichen musikalischen Dimension. Das trifft auch auf das Outro des beinharten, von luftig-elegischen Ruheparts und schleppenden Riffs durchzogenen Brockens "Check Your Misfortune" zu.
Mit einem nicht weniger kraftvollen Sludge-Riffgewitter in Meshuggah-Manier und treibender Doublebass hauen die Amerikaner in "Contrapasso" auf die Trommelfelle. Auch hier spielen sie wieder alle Karten ihres kompositorischen Könnens zwischen unerbittlicher Schwere, plötzlichen Breaks, frickelnden Prog-Parts mit gegenläufigen Gitarrenlinien und singenden Bassläufen sowie Post Rock-lastigen Klangflächen aus. Fast klingt es, als würden King Crimson und Yes mit Neurosis und den kanadischen Tech-Deathern Gorguts verschmelzen.
Ebenso heavy agieren Intronaut im vertrackten Banger "Pangloss". Vor allem im Drumming passiert hier so viel, dass man sich leicht im kniffligen Spiel mit Takt und Metrik sowie der Masse an Fills und der Vielfalt der Ideen verliert. Besonders herausragend: der gegensätzliche, ausgedehnt-wolkige Übergang zum Ende des Tracks und dessen opulente, Cult Of Luna mit Tool verschmelzenden Harmonien zwischen beiden Gitarren, Bass und Synthies.
Mit dem Titel des Stückes beziehen sich Intronaut auf die gleichnamige Lehrerfigur aus Voltaires satirischer Spottnovelle "Candide oder der Optimismus". Diese unterrichtet den Protagonisten in Gottfried Wilhelm Leibniz' optimistischer Philosophie der besten aller möglichen Welten, nachdem jener in flagranti mit der Prinzessin erwischt und des Heimatschlosses verwiesen wurde. Dementsprechend lauten die ersten Verse des Tracks: "In this, the best of all possible worlds / we are all born to die."
Als Gast luden Intronaut Ben Sharp aka Cloudkicker ins Studio ein, mit dem sie bereits 2014 auf "Live With Intronaut" kollaborierten. Auf "Fluid Existential Inversions" spielt er im sperrigen "The Cull" als Gitarrist mit und liefert zusätzlich die Hauptriffs für das finale, abermals stark polyrhythmische, Tool-artige "Sour Everythings". Im letzten Drittel dieses epischen und längsten Tracks des Albums schleichen sich in der Gitarrenarbeit sogar ein paar melodische Reminiszenzen in Richtung Iron Maidens Klassiker "Powerslave" ein, bevor die Platte mit einer kurzen Ambient-Wolke ausklingt.
Dass die Kalifornier für das Album erneut mit Produzent Josh Newell arbeiteten, erweist sich als die absolut richtige Entscheidung. Er verhilft dem vor technischer Raffinesse und Eklektizismus geprägten Songwriting der Kalifornier über den gesamten Verlauf des 53-minütigen Wahnsinns zu einer organischen, nie künstlich konstruiert erscheinenden Wirkmacht. Damit sprengen sie als ausgereifte Komponisten und Instrumentalisten ihre eigenen Grenzen und übertreffen sich ein weiteres Mal selbst. Converge-Gitarrist und Mixer Kurt Ballou (High On Fire, Russian Circles) verpasst der Platte einen fetten, glasklaren Sound, der jedem Instrument exakt den benötigten akustischen Raum gibt, aus dem selbst die allerkleinsten sonischen Details klingen.
Intronaut veröffentlichen mit "Fluid Existential Inversions" einen herausfordernden Brocken, in dessen kompositorische Dichte man erst im Verlaufe mehrerer Hördurchgänge hineinwächst. Nur dann erschließt sich dem Hörer das Album, gleich einer akustischen Phantasmagorie, wie ein Schatzkistchen voller unerwarteter Wendungen und überraschender Ideen. Ganz klar ein früher, aber verdammt heißer Anwärter auf die obersten Ränge der Progressive Metal-Platten des noch frischen Jahres 2020.
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