Früher einmal spielte Nick Cave Rock’n’Roll mit seinen Bad Seeds. Inzwischen floss viel Wasser den Bach hinunter. Der Australier hat in seinen Texten auch andere Gegenden erforscht. Und der Sensenmann hat ihm nur allzu früh einen 15-jährigen Sohn weggenommen. Seit diesem Zeitpunkt ist seine Musik zu einem unergründlichen Auslassventil geworden und sie hat mit Skeleton Tree einen Gipfel erreicht – es handelt sich um eine seiner schönsten und zugleich undurchschaubarsten Platten. Das künstlerische Schaffen in Trauer, für Trauer und aus Trauer heraus zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hin. Mit diesem im Jahre 2016 veröffentlichten Album zählt Cave nun zu einer ganzen Reihe Menschen, die solch einen drückenden und lähmenden Zusammenhang meistern. Die Grenzen sind fließend zwischen erlebtem Schrecken – dem er nach wie vor ausgesetzt ist – und den von der Musik untermalten Worten. Ungeschminkt, geläutert, keineswegs unschicklich oder aufdringlich. Drei Jahre später gelingt dem leidenschaftlichsten rockenden Crooner ein umwerfender Nachfolger dieses Skeleton Tree, den man für unübertrefflich gehalten hatte. Ghosteen, das 17., aus einem Studio kommende Produkt der Bad Seeds, hört sich nicht wie eine James Last-Platte an. Es besteht aus zwei Teilen: „Die Songs des ersten Albums, das sind die Kinder. Die Songs des zweiten Albums, das sind die Eltern.“ Im Jahre 2017 hatte Cave verkündet, dass das nächste Bad Seeds-Album nicht eine Antwort auf Skeleton Tree sein würde, sondern eher „die künstlerische Vollendung einer Trilogie, die mit Push the Sky Away begonnen hatte.“ In melodischer oder rhythmischer Hinsicht sind die elf Titel auf Ghosteen alles andere als konventionell. Die Worte und vor allem der Gesang des Hausherren sind der mit Kopf und Lunge ausgestattete, treibende Motor, durchzogen von erholsamen Synthie-Klangteppichen und Loops von Warren Ellis; und auch von ein paar gespenstischen Pianoklängen und einer Geige in weiter Ferne. Damit wird Nick Cave ein Kampfgefährte von Leonard Cohen und Scott Walker. Und auch von Nico auf Desertshore. In diesem Opus, in dem Schmerzen sich in Träume und Tränen sich in Morgentau verwandeln, ist der Australier vor allem ganz alleine auf der Welt. Verzweiflung und Empathie, Traurigkeit und Glauben derart miteinander zu verquicken, das hat man in der Geschichte der heute überall verbreiteten Musik so gut wie nie gesehen. Das Cover des Albums symbolisiert diesen Volltreffer auf perfekte Weise: eine schöne und zugleich kitschige Zeichnung mit Fabelwesen und farbenfroher Vegetation, die direkt aus einem Märchenalbum stammen könnte. Hat man sich Ghosteen erst einmal angehört, dann fragt man sich, ob das jetzt das Paradies oder die Hölle sein soll. Vielleicht beides zugleich? © Marc Zisman/Qobuz