Für den ersten Höreindruck des neuen Albums nahm sich Killswitch-Shouter Jesse Leach viel Zeit. Nach einer vierwöchigen selbstauferlegten Musik-Zwangspause setzte sich der zurückgekehrte Sänger die Kopfhörer auf, stieg auf sein Fahrrad, drückte "Play" und fuhr los. Das Material war noch nicht einmal komplett durchgehört, da hatte der bärtige Frontmann bereits kugelrunde Waden: "Ich hatte mehr als dreißig Meilen zurückgelegt", berichtet uns Jesse voller Stolz im Interview.
Meolodischer Metal-Core als Grund für eine Zweirad-Leistungsexplosion? Gut möglich – für entspannte Kurse auf gängigen Großstadt-Bürgersteigen empfiehlt sich das neue Album der fünf Hartwurst-Weirdoz aus Massachusetts jedenfalls weniger, denn brachiale Energie-Attacken à la "The Hell In Me" oder "Beyond The Flames" betteln schon zu Beginn um freie Geradeaus-Strecken abseits von Ampeln und Verkehrsschildern.
Wuchtig und markant pumpt Drummer Justin Foley tonnenweise Doublebass-Kicks und Blastbeats in die Runde, während sich Adam Dutkiewicz und Joel Stroetzel an den verzerrten Sechssaitern die Finger blutig spielen. Mit viel Leidenschaft und Spielfreude ebnen die Instrumentalisten ein Fundament, auf dem ein Ausnahmeshouter wie Jesse Leach gar nicht anders kann, als im Akkord Bestleistungen aus der beanspruchten Kehle zu spucken. Mit geschwollener Halsschlagader verbeißt sich der verlorene Sohn ins Mikro und pendelt dabei zwischen derbem Hardcore-Geschrei und hochmelodischem Clean-Gesang hin und her.
Eine ausgewogene Balance zwischen Härte und Melodie zählt im Metal-Core-Bereich zur Grund-Philosophie. Killswitch Engage haben den schwierigen Spagat zwischen Mainstream und Underground in den letzten Jahren nahezu perfektioniert. Auch auf dem neuen Album findet das Quintett nahezu durchgehend den idealen Mittelweg, auch wenn sich die eine oder andere Airplay-Phase ("In Due Time", "A Tribute To The Fallen") mitunter weit weg vom Treiben im Inneren eines versifften HC-Hinterhof-Clubs entfernt.
Doch Songs wie das grandiose Maiden-goes-Fear Factory-Werk "New Awakening", das bösartige "All We Have" oder die emotionsgeladene Life Of Agony/Type O Negative-Hommage "Always" zählen zu den ausgeklügelsten und packendsten Ergüssen, die die Branche derzeit zu bieten hat. Von einer EPO-ähnlichen Wirkung zu reden, wäre sicherlich vermessen - doch wer sich für dieses Album als Begleitmusik zur morgendlichen Zweirad-Fahrt zum Bäcker entscheidet, der wird feststellen: Selten waren die Brötchen schneller auf dem heimischen Tisch.
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