In den vielen Aufnahmen, die Wilhelm Kempff von 1920 bis 1975 über 55 Jahre hin realisierte, obwohl er nicht gerne vor Mikrofonen spielte, kann man sich leicht verlieren. Er war jedoch immer mit ganzem Herzen dabei und feilte unaufhörlich an seinen Interpretationen. Es war ihm im Laufe seiner eigenen künstlerischen Entwicklung sowie der fortschreitenden technischen Neuerungen, durch die er alle Aufnahmeverfahren von der Akustik bis zur Stereophonie kennenlernte, wichtig, sich und seiner Kunst treu zu bleiben.
Der große deutsche Pianist hinterließ drei Gesamtaufnahmen von Beethovens Klaviersonaten: eine erste, nicht ganz vollständige aus den 1930er Jahren, eine zweite vom Anfang der 1950er Jahre und eine letzte, die auf dem vorliegenden Album zu hören ist, vom Beginn der 1960er Jahre in Stereophonie. Diese Aufnahmen wurden in einer im Verhältnis zum enormen Volumen relativ kurzen Zeit – von Januar 1964 bis Januar 1965 – im Studio der Deutschen Grammophongesellschaft in Hannover realisiert und stellen die letzten Etappe in Wilhelm Kempffs Philosophie dar, dessen Verbundenheit mit Beethoven im Laufe der Jahre noch enger geworden war.
Wenn sein Klavierspiel auch manchmal eine gewisse Härte aufweist, so ist diese Gesamtaufnahme doch sehr homogen und bringt die Freiheit in Kempffs Spielweise zum Vorschein, mit der er Beethoven zu größerer Helligkeit führt und ihn von der Schwere befreit, die ihm von deutschen Pianisten oft zugeteilt wurde. In dieser Suche nach Transparenz und Schlichtheit nähert sich Kempff der improvisatorischen Vorgehensweise, die Beethovens Markenzeichen war - wobei der Komponist alles „aufschrieb“, was ihm seine Fantasie spontan eingegeben hatte. © François Hudry/Qobuz