Das Meer – mythologisch in Ravels Ondine für Klavier, verklärt in den Werken von Debussy und mystisch im Park der Villa d'Este in Liszts Wasserspiele – schärft den musikalischen Geist, besonders um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um die es hier geht. Seine Unermesslichkeit, seine Reflexe und seine wechselnden Farben – es erinnert an Gefahren aber auch an Reisen – hat Komponisten zu vielfältigen Werken inspiriert: verschiedenste Klangbilder, von denen eines unwiderstehlicher ist als das andere, sei es für Klavier oder Orchester. Romantik und Symbolismus passen gut zu dieser Thematik, die ein Schwelgen in Effekten aller Art erlaubt. Einer Sirene gleich hat Marie-Nicole Lemieux ein Programm aufgenommen, das sie MER(S) genannt hat. Die Zuhörer mögen ruhig sein, ihre dunkle Stimme wird sie nicht in Meerestiefen hinunterziehen, sondern sie mit ihrer Wärme über Wasser halten. Durch ihre etwas unpräzise Artikulation werden sich einige allerdings verloren fühlen. Erste Zwischenlandung bei Elgar mit seinen Sea Pictures, einem wenig bekannten, aber prächtigen Werk; dann laden wir uns zu Chausson ein und kosten die harmonische und orchestrale Pracht seines Poème de l’amour et de la mer (Irma Kolassi, Jessye Norman, Dame Felicity Lott sowie Véronique Gens haben es fantastisch interpretiert); entdecken wir schließlich La Mer von Victorin Joncières, eine beeindruckende Kuriosität mit Chor (Opéra National de Bordeaux: klar, präzise, mit einem Wort: außergewöhnlich). Die Altistin artikuliert hier perfekt.
Dieses Programm ist wie eine spannende Reise in das Land des Wagnerismus. Paul Daniel und das Orchestre National de Bordeaux Aquitaine beleben den großzügig dichten und herrlich farbenfrohen Klang dieses Werks, in dem – Berlioz' Lektion ist nicht vergessen – die Harfe eine führende Rolle spielt. Ein spannendes Album, das uns noch lange begleiten wird. © Elsa Siffert/Qobuz