Auch wenn die russische Musik im 19. Jahrhundert noch unter dem Einfluss des italienischen und französischen Repertoires, sah dies die jüngere Komponistengeneration anders. Sie bemühten sich darum, durch die Verwendung volkstümlicher Melodien in ihren Kompositionen eine eigene russische Kontinuität herzustellen und dadurch einer Verwestlichung entgegenzuwirken. Modest Moussorgsky ist auf diese Weise eine Synthese aus der mehrere Jahrhunderte alten Folklore seines Landes und dem romantischen Kompositionsstil gelungen. Seine Oper Boris Godunow veranschaulicht diese Vorgehensweise: Jede Figur hat nach Art der wagnerianischen Leitmotive ihr eigenes Thema, während der musikalische Diskurs ein russisches volkstümliches Idiom verwendet. Die Schreibweise und die Harmonien beeindrucken durch einen leicht als russisch zu identifizierenden Hieratismus. Die Instrumentierung – man denke insbesondere an den Einsatz von Glocken im zweiten Teil des Prologs in der Krönungsszene – untermauert diese Identität. Und schließlich steht der überaus lyrische Gesang in diesem gewaltigen Werk – in der vorliegenden Version besonders bemerkenswert – der Prosodie der Sprache sehr nahe. Der chorische Charakter – von Varlaams Lied im Gasthaus bis zu den Chören, die die Partitur skandieren – verleiht der Oper einen grandiosen, aber nie malerisch wirkenden Realismus.
Kent Nagano und das Göteborger Symphonieorchester haben die in sieben große Bilder unterteilte Originalfassung von Boris Godunow gewählt, deren Libretto sich nicht den Konventionen des Genres unterwirft. Deshalb unterlag das Werk lange der Zensur und wurde schließlich durch Rimski-Korsakow neu instrumentiert. Dank dieser Überarbeitung konnte Boris aufgeführt und durch den Zugang zu den Opernbühnen bekannt werden. Und heute in der Originalversion von 1869 vom jungen Alexander Tsymbalyuk interpretiert werden: Dieser ist überzeugend in seinen Selbstvorwürfen, aber nicht ganz verrückt genug. Mika Kares' Interpretation des Pimen ist ebenfalls ausgezeichnet. © Elsa Siffert/Qobuz